Die ersten Passierscheine!
Dezember 1963! Zu meinem Leidwesen, musste ich mich am 06.12.1963 zu einer Operation ins Krankenhaus begeben. Als Alleinerziehende hatte ich in Westberlin keinen einzigen Menschen, der sich für diese Zeit um meine beiden zweieinhalb und dreieinhalb Jahre alte Kinder gekümmert hätte. Schweren Herzens musste ich sie für diese Zeit in einem Heim unterbringen. Mit dem Gedanken, Weihnachten muss ich unbedingt wieder bei den Kindern sein, begab ich mich in die Hände des Chirurgen.
Jeden Tag bekam ich die Berliner Morgenpost und da stand eines Tages schwarz auf weiß, es gibt Passierscheine nach Ostberlin. Ich war wie elektrisiert und bat sofort um ein Gespräch mit dem Arzt. Ich wollte auch einen Passierschein haben. Der schwankte zwischen Verantwortung und Menschlichkeit und schloss mit mir einen Kompromiss. Ich bekam ein Attest, dass ich eine schwere OP hinter mir hatte und damit sollte ich sofort vorgenommen werden. Er nahm mir das Versprechen ab, sollte ich warten müssen, komme ich sofort zurück. Das Krankenhaus war in Charlottenburg und ich begab mich zur Passierscheinstelle in der Schillerstraße. Als ich dort ankam sank meine Hoffnung auf den Gefrierpunkt. Der Anblick, der sich mir dort bot, war erschütternd! Die Straße war voller Menschen, die frierend im Schnee anstanden. Manche hatten einen Klapphocker dabei, weil sie nicht so lange stehen konnten. Waren mehrere in einer Familie, so wechselten sie sich ab. Ich kam mir so hilflos in dieser Situation vor, dass ich es nicht gewagt hätte, mich an den Anfang der Schlange zu stellen. Der Zorn der Leute wäre berechtigt gewesen und wegen meines Gesundheitszustandes konnte ich ein Handgemenge erst recht nicht provozieren. Ich ging an der langen Schlange vorbei und auf den leeren Schulhof. Wem sollte ich wohl hier mein Attest zeigen können? Deprimiert entschloss ich mich zu gehen. Nach ein paar Schritten kreuzte eine Rote-Kreuz-Schwester meinen Weg. Ich sagte: “Entschuldigung, können Sie mir helfen?“ und zeigte ihr mein Attest. Ehe ich mich versah, wurde ich durch eine separate Tür ins Haus geschleust und konnte meinen Antrag ausfüllen und abgeben. Auf diesem Weg verließ ich das Schulgebäude auch wieder. Wenn es in gewisser Weise auch nicht anders ging, hatte ich doch ein schlechtes Gewissen den Anderen gegenüber.
Am 23.12.1963 durfte ich das Krankenhaus verlassen und meine Kinder abholen, sie konnten Weihnachten wieder bei mir sein!
Am ersten Feiertag machten wir uns auf den Weg nach Ostberlin. Hinter dem Grenzübergang Chausseestraße warteten schon meine Eltern auf uns. Sie freuten sich sehr nun auch mal den Jungen zu sehen. An so einem Tag gab es so viel zu erzählen, dass die Stunden ganz schnell dahin schwanden. Gegen zehn Uhr traten wir den Rückweg an. Trotzdem ich nichts machen musste, war ich ziemlich schwach. Die Eltern begleiteten uns wieder bis zur Grenze und hofften, uns bald wieder zu sehen.
Wie beim Hinweg begann auch jetzt die unwürdige Kontrolle in den Taschen und Geldbörsen. Hinzu fahndeten sie nach „Westberliner Hetzschriften“ und Einhaltung der Mindestmengen, die festgelegt worden waren, für bestimmte Erzeugnisse. Diese sollten nämlich mit Westgeld in dem dafür vorgesehenen Intershop gekauft werden. Dort gab es alles, was sich ein Ostberliner wünschte. Aber Westgeld hatte ja kaum einer. Auf dem Rückweg kontrollierten sie, ob man auch nicht DDR-Erzeugnisse schmuggelte und ja keinen Pfennig Ostgeld von dem Zwangsumtausch 1:1 West- gegen Ostmark mitnahm.
Endlich durch, ich war erschöpft und hätte mir gewünscht, es möge einen Knall geben und wir wären zu Hause. Und auch hier wieder eine Schwester vom Roten Kreuz. Sie nahm die beiden Kinder und ich sollte ihr folgen. Erst jetzt sah ich, dass die Wagen nicht einfach abgestellt worden waren. In den Autos saßen Fahrer, die freiwillig die Menschen nach Hause fuhren, die alt und gebrechlich waren, oder wie wir, mit kleinen Kindern.
Und sie machten es umsonst!
Ich war überaus dankbar für diese humanitäre Geste unserer Mitmenschen!
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