1945 wurde Berlin eine Vier-Mächte-Stadt, umgeben von der DDR, einem russisch besetzten Gebiet, kurz Ostzone genannt. Im Gegensatz zu Berlin, wo man sich bis 1961 in allen Bezirken frei bewegen konnte, durften in die DDR nur Bewohner des Ostsektors fahren. Wir in Pankow gehörten zur russisch besetzten Zone.
1948 kam mein Vater aus Gefangenschaft und bekam seine alte Arbeitsstelle bei Ufa-Handel wieder, die sich aber jetzt Progress-Film nannte. Er trat in die SED ein. Ich denke es wurde ihm nahegelegt. 1949 heiratete er wieder und ich wohnte nun bei ihm in Friedrichshain.
Bild: Diese Abbildung beweist eindeutig, dass das Zeugnis nach meiner Strafversetzung im fünften Semester in Fachkunde (von 2 auf 3), Fachrechnen (von 2 auf 3) und Fachzeichnen (von 1 auf 3) manipuliert worden ist.
1951 erließ die Schulbehörde ein Gesetz, dass vielen Schülern zum Nachteil gelangte. Da in den Firmen Arbeiter in der Werkstatt fehlten, wurden die Jugendlichen dazu gezwungen, diese Berufe zu erlernen. Es funktionierte so: 1945 wurden alle Kinder wieder zum Schulunterricht verpflichtet. Viele wurden in die erste Klasse gesteckt, weil ihnen durch den Krieg die Grundkenntnisse fehlten. 1951 kam der Bumerang. Alle Kinder mussten nach ihrem Alter die Klasse wechseln und um auch die achten Klassen aufzufangen, führte man das 9. Schuljahr, ein Berufsfindungsjahr ein. Wer das Glück hatte aus der 8. Klasse in eine 9. Klasse zu wechseln, gehörte zur A-Qualität. Schüler der 7. Klasse, die in die 9. wechselten, waren B-Qualität und Schüler der 6. Klasse waren in der 9. Klasse nur noch C-Qualität. Das wirklich Böse daran war, dass nur Schüler der A-Qualität technische und kaufmännische Berufe erlernen durften. Den Anderen blieben nur die Handwerksberufe. Außerdem durfte nur studieren, wer aus einer Arbeiterfamilie kam. Wir fragten uns, was dann Kinder der Studierten werden durften?
Das war die DDR, Deutsche DEMOKRATISCHE Republik, Gleichberechtigung und Arbeiterstaat!
Ich hatte das Glück durch das energische Verlangen meiner Großmutter bei meiner Einschulung, dass ich zur A-Qualität zählte. Mein Glück war auch, dass ich bei meiner ersten Bewerbung unter sehr, sehr vielen eine von den sechs Lehrstellen beim Berliner Glühlampenwerk (früher Osram)bekam. Es war zum Teil entwürdigend. Wir waren sechs Lehrlinge und ich glaube unser Zusammenhalt gab uns Kraft. In unserem Großraumbüro hingen an den Pfeilern Lautsprecher, aber Musik durften wir nicht hören, nur Durchsagen. Und die kamen regelmäßig. Wir wurden alle sechs namentlich aufgerufen ins Parteibüro zu kommen, alle konnten es hören, im gesamten Werk. Dort bekamen wir regelmäßig unsere Gehirnwäsche. Keiner von uns ging in die SED! Ich war früher auch nicht in den jungen Pionieren und nicht in der FDJ.
Im zweiten Vierteljahr unserer Lehre war unser Arbeitsplatz die Lehrwerkstatt. Es war ja nicht schlecht ein Praktikum zu machen, aber die große Tafel war eine Demütigung für viele. Eine Tafel die fast eine halbe Wand einnahm und auf der alle Lehrlinge der Firma verzeichnet waren. Oben der oder die Beste, unten der oder die Schlechteste! Irgendwo auf dem 3. oder 4. Platz stand ich und gewann im Sommer zehn Tage Ostsee auf Usedom in Bansin. Wir waren glaube ich zwölf. Da unsere Zelte von unserem Gruppenleiter, Herrn A, an einem Hang aufgestellt wurden und es ununterbrochen regnete, war alles nass. Um ein bisschen ins Trockene und Warme zu kommen, gingen wir abends in ein Tanzlokal. Eine polnische Kapelle spielte unsere Musik und Tänzer waren auch genug da. Was tanzten wir also? Buggie natürlich! Ein Paar mittleren Alters war auch anwesend, der Mann wahrscheinlich Parteibonze. Er hielt mich und meinen Tanzpartner fest und maßregelte uns: „Hier tanzen wir ordentlich“. Sofort hörte die Kapelle auf zu spielen und der ganze Saal war mucksmäuschen still. Er bemerkte wohl, dass er auf einsamen Posten stand und gab nach. Gut möglich, dass die Musiker das später zu spüren bekamen.
Zum 1. Mai wurde marschiert. Da führten sie Listen, wer zum Treffpunkt an die Stalinallee kam. Wer kam erhielt 5 Mark. Wer nicht kam, einen Eintrag in die Personalakte? Wahrscheinlich.
Anlässlich der bestandenen Zwischenprüfung, wollten wir mit den Lehrlingen aus der Lehrwerkstatt feiern. Wir bekamen einen Raum und einen Studenten als Aufpasser. Es verlief alles gut. Am nächsten Tag spukte der Lautsprecher alle Namen aus, die bei der Feier anwesend gewesen waren. Wir wurden alle einzeln verhört. Keiner wusste, worum es ging, bis auf eine oder einen, der es gewesen war. Den haben wir nie erfahren. Fakt war, nachdem wir den Raum verlassen hatten, zog jemand den Büsten von Marx und Engels einen Nylonstrumpf über den Kopf. Das war eine Beleidigung höchsten Grades. Mir ist es äußerst schwer gefallen, den Schein zu wahren und nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Was mit dem Studenten geschah, der früher ging, weil wir ja so vernünftig waren, erfuhr keiner.
In der Berufsschule wurde ich eines Tages zum Direktor gerufen. Mit dem Gedanken, was kommt jetzt wieder, ging ich in sein Büro. Volltreffer! Er fragte mich, ob ich Maschinenbau studieren möchte. Ich war außer mir vor Freude. Ich würde Stipendium, Büchergeld etc. alles vom Staat bekommen. Dann kam die Rache meines Vaters, weil ich nicht gelernt hatte, was er wollte. Ich war noch nicht volljährig und er verbot mir das Studium. Der Direktor kam zu uns nach Hause, um meinen Vater umzustimmen, aber er warf ihn fast die Treppe hinunter. Ich sollte gefälligst arbeiten gehen und Geld nach Hause bringen.
Was meine Eltern beredeten, bekam ich nie mit. Aber eines Tages war Vater so wütend, dass auch ich es hörte. Man hatte meinen Vater mit anderen Kollegen über die Warschauer Brücke nach Kreuzberg geschickt, zur Agitation für die DDR. Der Osten wollte, dass sie die Westberliner davon überzeugen, ihre Lebensmittelkarten im Ostsektor zu beantragen. Die Leute in den Häusern hätten ihn fast verprügelt. Er zog die Konsequenz, trat aus der Partei aus und bestellte die Zeitung das „Neue Deutschland“ ab.
Ich bekam den Auftrag einen Krankenbesuch bei einer Lehrkollegin zu machen. Als ich dort ankam, war sie nicht da. Gerade als ich wieder gehen wollte, kam sie mit ihrer Mutter vom Einkaufen zurück. Wir redeten kurz und ich fuhr wieder in die Firma um Bericht zu erstatten. Als ich an meinen Schreibtisch kam, klang laute Musik aus dem Lautsprecher am Pfeiler bei meinem Platz. Ich fand das schön, setzte mich und arbeitete weiter. Plötzlich stand der stellvertretende Abteilungsleiter Herr D. neben mir und fuhr mich an, was mir einfällt, den Lautsprecher aufzudrehen! Ich verteidigte mich. Schließlich hatte ich ihn nicht angemacht. Das hätten doch die Kollegen neben mir bezeugen können. Er befahl mir sofort meine Sachen zu nehmen und mich in einem Zimmer im zweiten Stock zu melden. Strafversetzt! Ich hätte mich von allen anderen fernzuhalten und das Büro bekam Kontaktverbot mit mir.
Warum? Brauchten sie einen Sündenbock? Ist es die Summe der Verfehlungen, wie im Tanzlokal, Verbot des Studiums, dass ich nie in der SED war und mein Vater ihr den Rücken gekehrt hatte. Wurde ich sogar von jemand beschattet, der bemerkte, dass ich meine Kollegin nicht verraten hatte? Fortan verbrachte ich meine Tage mit einem Ingenieur, der Portraits malte statt Maschinen zu entwerfen. Eine Frau, die versuchte mir beizubringen, was mir noch fehlte. Arbeit bekamen wir keine mehr. Absolute Isolation. Aber Arbeitslose gab es in der DDR ja nicht. Sie wurden auf diese Weise durchgeschleppt.
Im Februar 1955 schaffte ich trotz aller Widerstände meine Gesellenprüfung. Im Mai wurde ich 18 Jahre alt und damit im Osten volljährig. Ich kündigte meine Arbeitsstelle fristgemäß zum August.
Ich war das erste Mal wahlberechtigt. Mit meinen Eltern im Wahlbüro angekommen, wurden wir gleich mit „Guten Tag Genossen“ begrüßt, und mit den Worten „Ihr wisst ja was man wählen muss, dann könnt ihr den Wahlzettel gleich hier ausfüllen“ schob er uns den Wahlschein hin. Wer traute sich dagegen aufzumucken? Mich störte ganz besonders das „DU“, wir hatten diese Leute nie gesehen.
Auf Grund der Aussage, ich solle gefälligst Geld verdienen, zog ich zu meinem Verlobten nach Westberlin. Dort bekam ich sofort Arbeit. Als Ostlerin wurde meine Volljährigkeit in Westberlin anerkannt. Später war ich froh, dass ich nicht studieren durfte, dann hätte ich auch 28 Jahre DDR ertragen müssen.
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